Überleben in Stadt und Land: Konturen der österreichischen Mangelgesellschaft um 1918
Sprache des Vortragstitels:
Deutsch
Original Kurzfassung:
Der Vortrag behandelt die österreichische Mangelgesellschaft in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren anhand eines zentralen Problems, das sowohl die politischen und wirtschaftlichen Eliten, als auch die Bevölkerung tagtäglich beschäftigte und den Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik (Deutsch-)Österreich nachhaltig prägte: die ?Volksernährung?. Einem gängigen Geschichtsbild zufolge waren Landbewohner/-innen in den Kriegs- und Nachkriegszeiten in Europa im 20. Jahrhundert hinsichtlich der Ernährung besser gestellt als Stadtbewohner/-innen. Kurz, ?das Land? war satt, ?die Stadt? hungerte. Dieses Bild speist sich aus der zunächst einleuchtenden Annahme, dass in einer Mangelgesellschaft dort, wo mehr Nahrung produziert wird, auch mehr davon für den Konsum zur Verfügung steht ? und vice versa. Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieses Bild als zu vereinfachend: Weder vermochten sich die Landbewohner/-innen durchgängig satt zu essen, noch plagte die Stadtbewohner/-innen durchgängig der Hunger. Der Vortrag zeichnet ein differenzierteres Bild der ?Volksernährung? in der Mangelgesellschaft in Wien und den österreichischen Bundesländern im und nach dem Ersten Weltkrieg. Er stützt sich neben zeitgenössischen Expertenaussagen und autobiographischen Erzählungen von Angehörigen unterschiedlicher Milieus vor allem auf amtliche Reihenuntersuchungen zum Ernährungszustand der Bevölkerung. Dabei erweist sich die gängige Annahme, dass die Ernährungssituation in Land und Stadt allein von der insgesamt vorhandenen Nahrungsmenge abhinge, als trügerisch. Vielmehr hing sie vor allem vom normativen und praktischen Zugang der Einzelnen und Gruppen zu Nahrungsmitteln ab. Die Möglichkeiten und Grenzen des Zugangs zu Nahrungsmitteln waren nicht nur zwischen Land und Stadt, sondern auch innerhalb der Land- und Stadtbevölkerung nach Klassen, Generationen und Geschlechtern ungleich verteilt ? und dementsprechend umkämpft.